Brauchen wir eigentlich Gott?
Von Till Raether
Ein bisschen Yoga und Meditation, etwas Nächstenliebe, ein Schutzengel und das Notfall-Stoßgebet. Ist das schon Glaube und brauchen wir Gott? BRIGITTE-Autor Till Raether über unsere vielen selbst gebastelten Religionen – und die Sehnsucht nach einer übergeordneten Instanz.
In diesem Jahr war ich auf einer Kommunion, und dort bin ich Gott begegnet. Peinlich, das zu erzählen; diese Art von Bekenntnis will man eigentlich nicht hören. Es war aber auch nur indirekt. Eigentlich gehe ich nicht in Gottesdienste, ich bin nicht mal evangelisch, geschweige denn katholisch; meine Eltern sind lange vor meiner Geburt aus der Kirche ausgetreten. Sie haben Wert darauf gelegt, dass wir als Kinder zum Religionsunterricht gingen und als Touristen in Kirchen, aber meine religiöse Prägung ist minimal: Unser Top-Weihnachtslied ist das eher areligiös zuversichtliche „O Tannenbaum“.
innig und leidenschaftlich
Ich würde sagen, dass es bei vielen Gästen der Kommunionsfeier ähnlich war: Quasichristen, Halbchristen und Ex-Christen, die bestenfalls zu hohen Familienfesten in die Kirchen gehen. Da die Kommunion im Rahmen eines öffentlichen Gottesdienstes stattfand, saß neben mir in der Kirchenbank eine ältere Dame, die nicht zu unserer Festgesellschaft gehörte. Dies erkannte man nicht zuletzt daran, dass sie bei allen Liedern voll Inbrunst und mit zwar brüchiger, aber auch geübter Stimme mitsang. Und daran, wie innig und leidenschaftlich sie die mir fremden Gebete sprach.
Ich betrachtete sie aus dem Augenwinkel, während ich so tat, als würde ich mit den Händen, Knien und meiner Kopfhaltung etwas im weitesten Sinne Religiöses tun, und ich wurde bei ihrem Anblick von einer seltsamen Rührung überfallen: Wie schön
Teil von etwas sein, das größer ist als man selbst
musste es sein, so glauben zu können, so sehr Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst. Und wie schön es schon allein war zu sehen, wie jemand bereit war, mit Ritualen, Gesten und Gesang auszudrücken, dass es etwas gibt, was weit über all den vergänglichen Alltagskram hinausgeht.
In mir mischten sich Gottes-Neid und Glaubensrespekt, und gegen Abend lösten sie sich auf in Richtung einer leichten Sehnsucht. Merkwürdig, wie selten wir Gott begegnen. Wir hören von ihm, wenn Fanatiker in seinem Namen Unheil stiften, oder wenn wir
vorbehaltlos und voll Hingabe
ihn und seinen Sohn zu Weihnachten geistesabwesend besingen, ohne groß auf den Text zu achten, weil alle in Gedanken beim Essen oder beim Familienstreit sind. Aber so wie vor einem halben Jahr bei dieser Kommunion: So nah bin ich Gott vielleicht noch nie gewesen. Weil ich so selten in der Nähe von Menschen bin, die vorbehaltlos und voll Hingabe glauben.
Auszug aus dem gleichnamigen Brigitte-Artikel von Till Raether. vom 8.11.2012. Ganzer Artikel siehe: www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/brauchen-wir-gott-1146816/ Abdruck mit Genehmigung der Redaktion.